Identifikation und Zuschreibung
"Ein Generalist fängt damit an, dass er wenig über vieles weiß. Im Laufe der Zeit
weiß er immer weniger über immer mehr, bis er zuletzt nichts über alles weiß.
Ein Spezialist weiß am Anfang ziemlich viel über ziemlich wenig. Nach und nach weiß
er immer mehr über immer weniger, bis er schließlich alles über nichts weiß."
Lord Elton
a) Merkmale zur Identifikation
In der Literatur wird häufig auf die Ähnlichkeit der Produktion der Glasfabrik Theresienthal mit der Produktion anderer Hütten
im Bayerischen Wald hingewiesen. Diese Ähnlichkeit macht es dem interessierten Sammler aber auch dem Experten nicht leicht,
die Gläser der vorletzten Jahrhundertwende einer bestimmten Glashütte zuzuordnen. Dennoch kann durchaus von einem
theresienthaler Stil gesprochen werden, der die Zuordnung von Römern nach Theresienthal leichter möglich macht,
jedenfalls dann, wenn man die Merkmale des Ornaments wie die Malerei oder die Gravur mit hinzuziehen kann.
So ist z.B. der rippengeprägte Glasfaden (Radband) als Reminiszenz an Römer aus dem 16. und 17. Jahrhundert, bei diesen
makierte er den Übergang des Schaftes zur Kuppa, selbstverständlich nicht nur bereits bei theresienthaler Römern des Historismus
zu finden, sondern wird von Entwürfen in der Zeit um den Ersten Weltkrieg aufgenommen und erscheint dann wieder in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts u.a. am Römer „Saar" und an den Gläsern der Service „Orlando" und „Bacchus".
Auch das gewellte Glasband („Zwackelband"), bei Römern des Historismus bekannt findet sich über die Zeiten hinweg zuletzt bei
den Römern „Dürnstein" und „Toscana" aber auch beim Likörglas „Capri" sowie
bei der Serie „Linderhof" und der Kollektion „Diadem".
Vorneweg: Die einzige Möglichkeit, ein Glas einer bestimmten Glashütte sicher zuzuschreiben, ist der exakte Nachweis
dieses Glases oder seines Dekores in einem für den Kunden aufgelegten Katalog. Und dies auch nur, wenn kein form-,
farb- und dekoridentisches Glas in den Katalogen einer anderen Glashütte nachzuweisen ist. Denn es gibt sie ja, die
beinahe identischen Entwürfe in verschiedenen Glashütten, wobei nicht immer klar ist, wer von wem “geklaut” hat.
Alle anderen Zuschreibungen allein aufgrund irgendwelcher nicht für den Endverbraucher bestimmten Skizzen etc., alle
Zuschreibungen allein aufgrund irgendwelcher Aufkleber etc., insbesondere alle Zuschreibungen allein aufgrund von
Aussagen wie “sorgfältige Goldmalerei mit Konturen kommt auf anderen Gläsern der Soundsohütte identisch vor”, ohne
dass entsprechende Abbildungen aus Verkaufskatalogen geliefert werden können, sind meiner Ansicht nach mit größter Vorsicht zu genießen.
Ein wichtiges Merkmal ist das Dekor: Bei oberflächlicher Betrachtung austauschbar erscheinend,
lassen sich Wappendarstellungen, Blütenranken etc. aufgrund einzelner Details in der Darstellung oft
der Glashütte Theresienthal zuordnen.
Gläser, die im 20. Jahrhundert produziert wurden, können mitunter anhand von Aufklebern
und Marken identifiziert werden:
Eckige Aufkleber mit dem irreführenden Eindruck „Bavaria 1421" und diversen weiteren Angaben wie „Handgravour", „Meistergläser",
dem Herkunftsnachweis „Germany" etc. finden sich erst ab etwa 1982.
Gläser mit runden Aufklebern sind älter. Seit etwa Mitte
der siebziger Jahre bis Mitte der achtziger Jahre wurde in ihnen die theresienthaler Krone mit verschiedenen Eindrucken wie etwa Germany oder F.R.G., immer
aber mit dem Namen der Glashütte ergänzt.
Ein in das H gestellte T
mit Krone als Signet in runden Aufklebern deutet hin auf ein Glas, das
bis Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hergestellt wurde. Das in das H gestellte T
ohne Krone wiederum findet sich bereits
auf einem Katalog, der 1934 von der Glashütte herausgegeben wurde.
Noch weiter zurück führt das Signet, das ein Kelchglas zeigt, in welchem das in das H
gestellte T den Schaft bildet. Es wurde bereits 1937 und
noch bis 1957 als Druck auf Briefumschlägen der Glashütte verwendet, 1959 wurde es dort abgelöst durch das kreisförmige Signet mit dem in
das H gestellten T, während der Freistempel das alte Signet behielt:
Zwar lässt sich feststellen, dass es bei der Verwendung der verschiedenen Signets zu zeitlichen
Überschneidungen kam, die genauen Zeiträume festzustellen, in denen die unterschiedlichen
Signets zeitgleich verwendet wurden, ist heute jedoch unmöglich.
Mitunter kann zur Identifikation eine Marke (auch zur zeitlichen Zuordnung der Entstehung eines einzelnen Glases)
herangezogen werden:
Als Marke findet sich an theresienthaler Römern über die letzten zwei Jahrzehnte der
Geschichte der Glashütte hinweg eine Krone.
Gläser, die bis Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hergestellt wurden,
tragen gegebenenfalls eine Marke mit einer stilisierten Krone über einem in das H gestellte T.
Aus welchen Gründen eine Marke angebracht oder weggelassen wurde, lässt sich nicht
eindeutig feststellen. Jedenfalls war ein quergerippter unten offener Römerfuß kein Hindernis für das Anbringen einer solchen
Marke, andererseits ist nicht jeder Römer mit Scheibenfuß mit einer Marke versehen. Dass durch das Anbringen der Marke
die erste von der zweiten Wahl unterschieden wurde, ist nicht belegt und läßt sich an den vorhandenen Gläsern auch nicht
nachvollziehen. Vielleicht hat die Technik bei manchen Gläsern das Anbringen der Marke erschwert bzw.
unmöglich gemacht: In einem Videofilm über die Arbeit in der Glashütte Theresienthal, der in
einzelnen Sequenzen in der Austellung des Glasmuseums Frauenau betrachtet werden kann, wird die
Anbringung der Sandstrahlmarke dokumentiert. Dabei ist das zu markende Glas von oben auf eine
Matritze zu drücken, durch die ein Apparat von unten den Sandstrahl bläst. Es hat den Anschein,
dass zur Anbringung einer Marke das Glas eine genügend große ebene und glatte Fläche bieten muss.
Tragen deshalb etwa die im 20. Jahrhundert produzierten Exemplare der Römer "Bernkastel" und "Kurfürst" mit ihren
spiralförmig gerippten Füßen selten nur eine Marke?
Zwei Produktionsmerkmale können herangezogen werden um ein Glas mit großer Wahrscheinlichkeit der Glasfabrik Theresienthal
abzuschreiben: das Vorhandensein eines warmveredelten Glasrandes und das Vorhandensein von Abrissstellen oder Heftmarken unter
dem Glasboden.
Der Rand der Kuppa, die Lippe, ist bei Römern aus Theresienthal in der Regel kalt veredelt, d.h. dass die überflüssige Glaskappe
abgesprengt und der Rand der Kuppa dann geschliffen wurde. Somit ist der Rand der Kuppa nicht gewölbt. Ist der Rand der Kuppa
gewölbt, sieht sein Querschnitt also wie ein umgedrehtes U aus, wurde er in (einem weiteren Arbeitsgang oder aber nach
vorheriger Abtrennung der überschüssigen Glasmasse mit der Schere) am Ofen oder über einer Flamme feuerveredelt, d.h.
verschmolzen. Dabei wurde das Glas mit dem Hefteisen gehalten, dessen Ansatzstellen bei Gläsern aus Köln-Ehrenfeld durchaus
häufig, bei Römern aus Theresienthal nie zu finden sind. Auch fühlt der Rand des Glases sich durch die „Verwärmung" glatter
an als der kaltveredelte Glasrand. Die Verwärmung wurde in Theresienthal nur bei den Gläsern angewandt, denen die durch die
Ausdehnung des erwärmten Glases in der Kuppa entstehenden Spannung keinen Schaden (= Ausschuss) zufügen konnte. Bei den Römern
sind dies lediglich die Gläser der Serie „Saar", deren Ränder leicht verwärmt wurden.
b) Wider die These vom exakten Maß
In jüngster Zeit wird von Warthorst und Neuner-Warthorst in die Diskussion eingeworfen,
dass eine gesicherte Zuschreibung
von Gebrauchsgläsern zu einer bestimmten Glashütte nur selten gelingen könne, schließlich
habe jede auf der Höhe ihrer Zeit sich
befindende Glasfabrik ohne weiteres Muster (besonders kommerziell erfolgreiche) aus anderen
Fabriken übernehmen können. So zähle
nur der Nachweis in originalen Produktions- oder Vertriebsunterlagen, denen man unbedingt
zu Gute halten müsse, dass alle
relevanten Details unzweifelhaft erkennbar seien und die Höhenangaben bis auf den
Millimeter genau stimmten.
Offen bleibt hierbei zunächst, was ein relevantes und was ein irrelevantes Detail ist:
Neuner-Warthorst scheint der Unterschied
zwischen Beeren- und Rosettennuppen sowie die Anzahl der Nuppen irrelevant zu sein, ebenso die Differenz zwischen flachem
Scheibenfuß und gewölbtem Hohlfuß. So werden im Trödler&Sammler vom Mai 2003 Römer und
Zeichnungen aus Preislisten einander
zugeordnet, die eben in jenen Details differieren. Auch die Behauptung, dass die Maßangaben der Kataloge etc. bis auf den
Millimeter exakt seien, wird unmittelbar widerlegt durch einen Vermerk in den Preislisten von Theresienthal 1907 und Buchenau
1888, der darauf hinweist, dass bei geaichten Römern eine gleichmäßige Höhe derselben nicht in jedem Fall gewährleistet werden
könne. Weiterhin existieren Römer, die um mehrere Millimeter in der Höhe differieren,
obgleich sie in der Form identisch sind.
Ganz offenbar schätzen Warthorst und Neuner-Warthorst die Bedingungen der handwerklichen
Glasproduktion, die eben nicht eine Serie von in allen Maßen und Proportionen exakt übereinstimmenden Gläsern garantieren konnte,
falsch ein und übersehen in ihrem eigenen Buch über die Glasfabrik Theresienthal
überdies die Höhendifferenz der Römer mit der Formnummer 1496.
Mundgeblasene Gläser wurden (und werden) in meist hölzernen Hohlformen (Modeln) geformt, die immer wieder neu hergestellt
werden müssen, da sie sich bei der Herstellung durch die Hitze der Glasmasse abnutzen (verkohlen). Das erste Glas aus ein und
derselben Model kann schon aus diesem Grunde nie exakt dieselben Abmessungen besitzen wie das letzte. Allein schon aus diesem
Grund wäre bei der Betrachtung der Form immer schon eine gewisse Toleranz in der Maßhaltigkeit zu berücksichtigen. Diese
Toleranzen können aber auch bei der immer wieder neuen Herstellung der Holzform ins Spiel kommen, auch sind sie abhängig von
der Menge der Glasmasse, die der Glasbläser verwendet. Schließlich kommen Toleranzen auch beim Absprengen der Glaskappe und
der Bearbeitung des Kupparandes zustande. Bei freien Auflagen (Wellenbändern etc.) und bei gesponnenen Römerfüßen bestimmt
erst recht auch das Geschick des Glasbläsers die (freie) Form. Gerade wegen dieser aus vielfachen Gründen sich immer wieder
einstellenden Differenzen gab es in den Mundblashütten die Sortiererei, in der z.B. sechs auch auf den zweiten Blick in Höhe,
Glasdicke etc. identische Gläser zusammengestellt wurden. So verbietet es sich, ein Glas nur dann einer Glashütte zuschreiben
zu wollen, wenn es mit formgleichen Gläsern und / oder den Angaben in der Preisliste exakt übereinstimmt. Dies belegt
Warthorst offenbar unwissentlich schon selbst, wenn er in seinem Buch über die Glasfabrik Theresienthal auf den Seiten 36-47
insgesamt zwölf Varianten des Glases 1496 abbildet, zehn mit einer Höhe von 20,2 cm, immerhin zwei aber mit der Höhe von 20,3 cm
Hinzu kommen folgende Beobachtungen: In der Preisliste aus Theresienthal um 1885 ist der
Römer 6/544 nur in einer Größe abgebildet, über Größe oder Volumen werden keine Angaben gemacht. In der
Sammlung des Autors befindet er sich nun aber in zwei Größen (1/4 l und 200ml!) mit
Unterschieden in der Anzahl der Nuppen (sechs und vier) aber gleichem theresienthaler Dekor.
Vergleiche hierzu:
Variationen der traditionellen Römerform
Die Preisliste bildet nur einen Römer ab, ohne dass deutlich wird, welche Größe dort
abgebildet ist, gleichzeitig sind aber zwei Größen nachweislich produziert worden.
Gehört einer der Römer in der Sammlung des Autors nicht zur theresienthaler Produktion, und wenn ja, dann welcher?
Die Preislisten geben also nicht in jedem Fall die exakten Maße
wieder, sie wollen dies im Falle Theresienthals nicht einmal, da zwar der Hinweis in der Preisliste gegeben wird, dass
die Gläser in z.B. 1/5 der Originalgröße abgebildet wären, exakte Maßangaben aber anders als in den Preiscourants Ehrenfelds
nicht gemacht werden. Die Glashütte Köln-Ehrenfeld wiederum macht Eingangs ihrer Preiscourants nun folgende Bemerkung
(neben anderen), obwohl, oder besser gesagt, gerade weil sie die Höhe ihrer Gläser in Millimetern angibt: „Eine ganz genaue
Einhaltung der Maasse (sic!) (...) ist, wie in der Natur der Sache liegt, nicht möglich und geben wir daher bei den
einzelnen Artikeln auch nur die annähernden Dimensionen auf."(Schäfke) Folgt man der praktischen Erfahrung der
Glashütte
Köln-Ehrenfeld und nicht den theoretischen Überlegungen Warthorsts, gibt es das exakte Maß für mundgeblasene Gläser
überhaupt nicht.
Für die Identifikation der Gläser und ihre Zuschreibung zu einer bestimmten Glashütte bedeutet dies nun:
Das postulierte exakte Maß, das sich für Römer dieser Zeit überhaupt nicht ermitteln läßt und, da es nie existent war, auch
niemals ermitteln lassen wird (kaum anders als zum Ausgang des 20. Jahrhunderts, als in den Preislisten Theresienthals zwar
Maße vermerkt wurden, diese aber dennoch geringfügig zwischen Gläsern gleicher Form aber unterschiedlicher Herstellungszeiträume
abweichen), kann so noch nicht einmal eine notwendige, geschweige denn eine hinreichende Bedingung für die Zuschreibung eines
bestimmten Glases sein. Vielmehr müssen andere Kriterien wie das Dekor, weitere Formelemente, die Farbe und die Beschaffenheit
der Glasmasse etc. zur Herkunftsbestimmung hinzugezogen werden. Dabei wird eine absolute Sicherheit meist nicht erreicht werden
können, wohl aber eine hohe Wahrscheinlichkeit, die solange zu gelten hat, wie sie nicht widerlegt wird. Unwissenschaftlich
ist nicht die Zuschreibung aufgrund von mit Wahrscheinlichkeit zutreffenden Annahmen, sondern die Abschreibung aufgrund von
Kriterien, deren Stichhaltigkeit lediglich postuliert aber nie bewiesen oder gar, wie die These vom exakten Maß, widerlegt
wurde. Mit anderen Worten: Eine begründete (nicht bloß vermutende) Zuschreibung eines Glases hat so lange zu gelten, bis sie
durch eine besser begründete Zuschreibung widerlegt wird.